Erfahrungen helfen! Aber nicht immer: Wie hilfreich ist Peer-Support wirklich?

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Nur wer selbst durch die Hölle gegangen ist, kann anderen zeigen, wie sie wieder rauskommen.“ Dieser Satz klingt nach Lebenserfahrung, nach Trost und Verständnis. Kein Wunder, dass er immer wieder auftaucht. Aber stimmt das wirklich? Sind Menschen, die selbst psychische Krisen erlebt haben auch automatisch die besseren Berater:innen?

Wir schauen genauer hin: Was spricht für und was gegen Peer-Support?

Gelebte Erfahrung ist Gold wert

Wer selbst eine Depression, eine Angststörung oder einen Burnout durchlebt hat, weiß, wie sich das anfühlt. Das tiefe Loch, die Sprachlosigkeit, die Scham, das Gefühl, nicht mehr normal zu sein. All das kann kein Lehrbuch dieser Welt vermitteln.

In Peer-Beratungen oder Selbsthilfegruppen entsteht daraus eine ganz besondere Verbindung: Man fühlt sich untereinander gesehen, verstanden und nicht mehr allein. Es entsteht eine ganz andere Ebene von Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Das kann Mut machen, Hoffnung geben und echte Solidarität stiften.

Beispiel:
Ulli, 34, hat selbst eine schwere depressive Episode hinter sich. In ihrer Selbsthilfegruppe merkt sie: „Hier darf ich über alles sprechen, ohne dass jemand komisch schaut. Die anderen wissen einfach, wie es ist.“ Für viele ist das der erste Schritt raus aus der Isolation.

Warum suchen sich akut Betroffene oft Unterstützung bei Erfahrenen?

Viele Menschen, die aktuell unter psychischer Belastung leiden, fühlen sich bei anderen, die Ähnliches durchlebt und überwunden haben, besonders gut aufgehoben. Das hat mehrere Gründe:

  • Verständnis ohne viele Worte: Wer selbst schon mal in einer Krise war, braucht oft keine langen Erklärungen. Ein Blick, ein Satz, ein geteiltes Schweigen reichen. Das Gefühl von „Du verstehst mich wirklich“ entsteht sofort. Betroffene fühlen sich verstanden bei Menschen, die Ähnliches erlebt haben. Die Sozialpsychologie nennt das social comparison theory. Man vergleicht sich mit Menschen in vergleichbaren Situationen, um sich selbst einzuordnen. Der Effekt beruht darauf, dass geteilte Erfahrungen eine starke Gruppenidentität erzeugen.
  • Weniger Scham, mehr Vertrauen: Akut Betroffene berichten häufig, dass sie sich weniger bewertet fühlen, wenn ihr Gegenüber ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Die Angst, „verrückt“ zu wirken, „nicht normal“ zu sein oder nicht ernst genommen zu werden, ist geringer. Das reduziert Scham und fördert das Sprechen über eigene Belastungen. Studien zeigen, dass Peer-Support dabei hilft, Selbst-Stigmatisierung deutlich zu senken.
  • Hoffnung durch Vorbilder:Wenn sie oder er es geschafft hat, dann kann ich das vielleicht auch.“ Erfahrene werden zu lebenden Beweisen, dass Besserung möglich ist.
  • Praktische Tipps aus erster Hand: Ratschläge, die auf eigenen Erfahrungen beruhen, wirken oft glaubwürdiger und lebensnaher als rein theoretische Empfehlungen.
  • Zusatz: Positiver Helfer-Effekt: Auch die unterstützenden Peers profitieren selbst davon: Sie gewinnen Selbstwert, Klarheit und ein Gefühl der Sinnhaftigkeit. Dieser Effekt wird helper‑therapy principle genannt.

Beispiel:
Fatih, 27, erzählt: „Mein Therapeut ist super, aber so richtig verstanden fühle ich mich bei meinem Kumpel aus der Selbsthilfegruppe. Er weiß, wie es ist, wenn die Panik von null auf hundert kommt. Das beruhigt mich.“

Woher kommt der Glaube, Peer-Support könnte besser helfen?

Es wäre sinnlos zu bestreiten, dass Peer-Support hilfreich ist. Doch es lohnt sich differenzierter hinzuschauen und auch zwischen den Zeilen zu lesen:

  • Erfahrungswissen statt Theorie: In vielen Lebensbereichen gilt: Praxis schlägt Theorie. Das kennen wir aus dem Handwerk, aber auch aus dem Alltag („Wer drei Kinder großgezogen hat, weiß mehr als jedes Erziehungsbuch“). Übertragen auf psychische Gesundheit könnte es heißen: Wer selbst betroffen war, gilt als besonders kompetent.
  • Enttäuschung vom System: Viele berichten von negativen Erfahrungen mit dem Hilfesystem: lange Wartezeiten, unpersönliche Gespräche, Diagnosen ohne Erklärung, das Gefühl, „durchgereicht“ zu werden. Im Vergleich dazu wirkt die Unterstützung durch andere Betroffene deutlich menschlicher und zugänglicher.
  • Systemkritik und Empowerment: Der Glaube an die Kraft der Selbsthilfe ist oft auch ein Zeichen von Systemkritik: „Wir müssen uns selbst helfen, weil das System uns nicht auffängt.“ Peer-Support wird so zur Gegenbewegung, die auf Augenhöhe, Solidarität und Eigenverantwortung setzt.
  • Stigma und Tabus: Wer sich professionelle Hilfe sucht, muss oft Hürden überwinden: Angst vor Stigmatisierung, Unsicherheit, ob das eigene Leiden „schlimm genug“ ist. Der Austausch mit Erfahrenen fühlt sich oft sicherer und weniger bewertend an.

Wichtige Grenzen von Peer-Support

Wir sagen JA zum Peer-Support! Doch auch eine Peer-Begleitung hat ihre Grenzen:

a) Jeder Fall ist anders
Psychische Erkrankungen sind so individuell wie die Menschen selbst. Zwei Menschen mit einer Angststörung können völlig unterschiedliche Auslöser, Symptome und Wege zur Besserung haben. In einfachen Worten: Nur weil mir A geholfen hat, muss das für dich nicht funktionieren.

Beispiel:
Basti schwört auf Joggen gegen seine Depression. Für Elisa ist Bewegung eher zusätzlicher Stress. Was dem einen hilft, kann bei der anderen Druck erzeugen.

b) Fachwissen ist kein Selbstläufer
Therapeutische Methoden, Diagnosen, Krisenintervention: Das lernt man nicht auf Instagram, nicht im Podcast und auch nicht durch eigene Betroffenheit. Psychotherapie ist ein komplexer Beruf, der Ausbildung, Supervision und Reflexion braucht. Vor allem: Wer helfen will, sollte die eigenen Grenzen kennen.

c) Gefahr des Rückfalls oder der Retraumatisierung
Wer selbst noch mitten im Prozess steckt, kann beim Zuhören oder Helfen alte Wunden aufreißen. Gut gemeinte Unterstützung kann so schnell zur Überforderung werden, was letztlich beiden Seiten schadet.

d) Alte Muster, neue Probleme
Ohne professionelle Begleitung können sich unbewusst (alte) Dynamiken in die Beziehung einschleichen: Retter-Rollen, Mutter-/Vater-Rollen, Co-Abhängigkeit, Selbstaufopferung oder Perfektionismusdrang. Das ist menschlich, aber nicht immer hilfreich.

Wo Peers wirklich helfen können

Peer-Support wird in verschiedenen Kontexten eingesetzt, darunter:

  • Psychische Gesundheit: Unterstützung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durch andere Betroffene. Ein Miteinander auf Augenhöhe, ohne Besserwisserei, Pathologisierung und Stigmatisierung.
  • Selbsthilfegruppen: Ehrlicher Austausch, mitfühlendes Verständnis und gegenseitige Ermutigung sind hochwirksam gegen das Gefühl von Isolation.
  • Suchthilfe: Begleitung von Menschen mit Abhängigkeitserfahrungen durch ehemals Betroffene.
  • Behindertenhilfe: Beratung von Menschen mit Behinderungen durch andere mit ähnlichen Erfahrungen.
  • Jugendarbeit: Begleitung von Jugendlichen durch Gleichaltrige in schwierigen Lebensphasen.
  • Anti-Stigma-Arbeit: Offene Berichte und Aufklärungsarbeit machen Mut und zeigen: Du bist nicht allein!

Wichtig:
Als Peer bist du Brückenbauer:in. Doch du musst deine Rolle und deine Grenzen sehr gut kennen. Du bist nicht Therapeut:in, sondern Begleiter:in, Erfahrungsgeber:in, Mutmacher:in. Das ist sehr wertvoll!

MindShift: Persönlicher Bezug und professionelle Haltung

Wie geht MindShift mit persönlichen Erfahrungen um?

In MindShift ist genau diese Balance aus persönlicher Erfahrung und professionellem Wissen zentral. Wir glauben:

  • Wissen ist wichtig, weil es Orientierung, Sicherheit und ein Stück Kontrolle gibt.
  • Handlungskompetenz ist entscheidend, weil echte Veränderung nur durch eigenes Tun passiert und so Selbstwirksamkeit gestärkt wird.
  • Persönliche Verbindung ist unser Herzstück, denn all das gute Wissen bleibt abstrakt, wenn es nicht mit eigenen Erfahrungen und Gefühlen verbunden wird.

Konkret bedeutet das:
Unsere Dozentinnen bringen auch eigene Erfahrungen mit ein. Dennoch sind sie zusätzlich didaktisch und fachlich geschult. In unseren MindShift-Kursen wird offen über persönliche Wege gesprochen, ohne dass jemand seine Geschichte „ausstellen“ muss. Es geht darum, ein neues Gespür für sich selbst zu entwickeln, sich wieder zuzuhören und zu verstehen, wo der eigene Shift beginnt. Übungen und Austausch sind so gestaltet, dass jede:r sich auf eigene Weise einbringen kann. Ganz ohne Druck, aber mit viel Raum für Authentizität.

Ein Ziel von MindShift ist es, frühzeitig Selbsthilfe zu stärken:
Wir möchten, dass Teilnehmende gar nicht erst in den klinisch relevanten Bereich abrutschen, sondern schon vorher lernen, auf sich zu achten, sich Unterstützung zu holen und eigene Ressourcen zu nutzen. Das gelingt am besten, wenn persönlicher Bezug, wissenschaftliche Fundierung und ein klarer und herzlicher Rahmen zusammenkommen.

Unser Ansatz:

  • Erfahrungen teilen, aber nicht therapieren.
  • Mut machen, aber keine falschen Versprechen geben.
  • Vielfalt und Individualität wertschätzen.
  • Wissenschaftliche Fundierung und Menschlichkeit verbinden.

Psychische Gesundheit braucht Vielfalt: Verschiedene Stimmen, Perspektiven und Methoden. Nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch.

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