Zwischen Selbst und Szene: Das Spannungsfeld künstlerischer Persönlichkeit

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Wir werfen einen Blick auf die psychische Gesundheit bei Künstler:innen und den Narzissmus der Kulturbranche

Kunst ist ein Spiegel – oft für die Welt, manchmal aber auch für das eigene Innenleben.

Ein Mensch, der auf der Bühne steht, malt, singt, schreibt oder performt, zeigt oft mehr als nur eine Rolle: Er zeigt auch einen Teil seiner selbst. In kaum einem anderen Berufsfeld verschwimmen Berufliches und Privates so stark wie in der Kunst- und Kultur-Szene.

Die Bühne wird zum Ausdruck des Inneren, die eigene Person wird zum Medium der Botschaft. Doch was bedeutet das für die seelische Balance von Künstler:innen?

Alexander, Schauspieler, 46 Jahre:

Einige meiner früheren Beziehungen sind in die Brüche gegangen, weil mich meine Partner für egozentrisch gehalten haben. Mir fällt es schwer, die Rolle, die ich gerade probe, zu Hause abzulegen und auch Probleme im Theateralltag, möchte ich mit mir nahestehenden Personen besprechen. Auch die schönen Seiten des Berufs möchte ich teilen und vielleicht verliere ich mich dann in endlosen Monologen. Das wird mir leider oft als Ich-Bezogenheit oder gar „Narzissmus“ ausgelegt.

Die Verschmelzung von Ich und Ausdruck

Im kreativen Schaffen ist das Ich nicht nur Werkzeug, sondern oft auch Inhalt. Sänger:innen arbeiten mit ihrer Stimme, Schauspieler:innen mit ihrem Körper und ihren Emotionen, bildende Künstler:innen mit ihrem ganz persönlichen Blick auf die Welt. Kritik am Werk trifft daher nicht selten direkt ins Herz, denn sie wird als Kritik an der eigenen Person erlebt.

Die ständige Bewertung, der Wunsch nach Resonanz und die Suche nach Anerkennung gehen für viele mit großer emotionaler Offenheit einher. Die Folge: Der Grat zwischen gesunder Selbstinszenierung und überfordernder Selbstexposition wird schmal. Wer sich auf der Bühne zeigt, macht sich auch verletzlich. Das ist „Berufsrisiko“, aber auch ganz klar eine psychische Belastung.

Wenn das System Selbstdarstellung verlangt

Natürlich gibt es im Kulturbereich auch Personen mit narzisstischen Anteilen, wie in vielen anderen Branchen auch. Doch diese sind oft keine bewusste Pose, sondern das Ergebnis systemischer Anforderungen: Wer sichtbar sein will, muss sich präsentieren. Wer Erfolg will, muss sich „verkaufen“. Und verkauft wird nicht nur das Werk, sondern auch das Ich.

In einer Welt, in der soziale Medien, Selbstvermarktung und Aufmerksamkeit Kapital sind, gehört das inzwischen auch zur Überlebensstrategie.

Marina, 32, Mezzosopran:

Eigentlich hasse ich Instagram. Diese Selbstdarstellung geht mir auf die Nerven, aber ohne eigenen Kanal geht man in der Masse unter. Ich sage mir immer, dass meine Posts nur mein professionelles Ich darstellen und eigentlich nichts Persönliches zeigen. Aber selbst enge Freunde schicken mir dann Nachrichten und gratulieren mir zu meinem vermeintlich spannenden und abwechslungsreichen Leben, das ich online präsentiere, ohne zu fragen, wie es mir wirklich geht. Das macht mich traurig.

Hier entsteht ein Missverständnis: Die oft als „Ich-Bezogenheit“ wahrgenommene Haltung vieler Künstler:innen ist nicht unbedingt Ausdruck von Eitelkeit oder Überheblichkeit oder eines krankhaften Narzissmus. Vielmehr entsteht sie häufig aus dem ständigen emotionalen Investment in die eigene Arbeit  und dem Wunsch, gehört und verstanden zu werden.

Macht und Inszenierung hinter den Kulissen

Oft richtet sich der Blick auf die Bühne und auf jene, die scheinbar im Zentrum des Rampenlichts stehen. Doch viele der prägenden Dynamiken entstehen nicht im Rampenlicht, sondern im Hintergrund: in den Büros der Agenturen, in den Entscheidergremien, in den Intendanzen und Förderinstitutionen. Dort, wo nicht nur über Karrieren, sondern auch über Deutungshoheit und Zugang zu Ressourcen entschieden wird.

Gerade in diesen Machtpositionen finden sich häufig die eigentlichen „narzisstischen Strukturen“. Aber nicht in Form bunter Selbstdarstellung, sondern in Form subtiler Muster von Kontrolle, Geltungsbedürfnis und Einflussnahme. Wer über die Laufbahn anderer entscheidet, kann leicht in Versuchung kommen, sich selbst über das System zu inszenieren: durch das Gefühl von Unersetzlichkeit, durch Netzwerke oder durch die Fähigkeit über Erfolg und Misserfolg zu bestimmen.

Diese Form der narzisstischen Struktur bleibt nach Außen hin oft verborgen. Sie tarnt sich als Professionalität, Erfahrung oder „Instinkt für Talente“. Doch auch hier geht es nicht selten mehr um Macht als um Kunst, mehr um Selbsterhalt als um kreative Freiheit.

Künstler:innen, die ohnehin in einer prekären Position stehen, geraten dabei leicht in Abhängigkeit und manchmal in eine psychisch belastende Dynamik, die wenig mit echter Förderung und viel mit Kontrolle oder sogar Manipulation zu tun hat.

Wenn wir über narzisstische Muster im Kulturbereich sprechen, sollten wir also nicht nur auf die sichtbare Inszenierung schauen, sondern auch auf jene, die im Schatten des Systems das Drehbuch schreiben. Dazu empfehlen wir dir unbedingt unseren Artikel: Wie wir Persönlichkeitsstörungen zur modernen Hexenjagd machen.

Zwischen Applaus und Anspannung

Die Kunstwelt lebt von starken Bildern und großen Gefühlen! Sie lebt von Menschen, die bereit sind, sich all dem auszusetzen. Doch nicht alle Künstler:innen sind laut, exzentrisch oder selbstbewusst. Viele sind leise, sensibel, unsicher oder innerlich zerrissen. Für sie ist Kunst kein Ort der Selbstverherrlichung, sondern ein Raum der Verarbeitung, der Sicherheit oder der Verarbeitung.

Manche verarbeiten Ängste, Traumata oder Unsicherheiten durch ihr kreatives Schaffen. Doch nicht, um sich zu profilieren, sondern um zu überleben. Sie flüstern, wo andere schreien. Und sie tragen viel, oft mehr, als von außen sichtbar ist.

Zwischen Romantisierung und Realismus

Du wirst den Ausdruck kennen: „Genie und Wahnsinn“. Das prägt unser Bild der Kunst- & Kultur-Szene bis heute. Es romantisiert die Verbindung zwischen künstlerischer Brillanz und psychischer Instabilität. Doch so einfach ist es nicht. Während künstlerische Exzentrik schnell gefeiert wird, werden andere psychische Realitäten oft übersehen, bagatellisiert oder sogar stigmatisiert.

Dabei braucht die Kunstwelt Differenzierung. Nicht jede Form der Selbstdarstellung ist narzisstisch und nicht jede Unsicherheit ist Schwäche oder mangelnde künstlerische Kreativität. Vieles davon ist schlicht menschlich und Ausdruck der Komplexität, die in künstlerischem Arbeiten liegt.

Unser Plädoyer

Mehr psychische Vielfalt

Die Strukturen der Kunst- & Kultur-Szene sind fordernd! Wer still ist, wird leicht übersehen. Wer zweifelt, wirkt oft „weniger professionell“. Doch wenn nur noch das Lauteste zählt, verlieren wir die Vielfalt. Oder siehst du das anders?

Die Branche braucht Räume, in denen sowohl starke Bühnenpräsenz, als auch leise Tiefe ihren Platz haben. Wo nicht nur Perfektion, sondern auch Verletzlichkeit und vor allem Menschlichkeit willkommen sind.

Wir brauchen eine Sprache, die das Innenleben von Künstler:innen nicht nur durch Klischees beschreibt. Weder „Narzissmus“ noch Sensibilität sind Masken, die man sich einfach aufsetzt. Sie sind oft das Ergebnis von Lebensgeschichten, innerem Ringen und einem tiefen Bedürfnis, etwas mitzuteilen.

Kunst als Ausdruck & nicht als Urteil

Künstler:innen leisten Enormes: Sie zeigen sich, sie verbinden Berufliches mit Persönlichem. Und sie nehmen in Kauf, dass Kritik an ihrem Werk sich wie Kritik an ihrer Person anfühlen kann. Dafür verdienen sie kein vorschnelles Urteil, sondern Verständnis für die besondere Dynamik ihrer Arbeit.

Denn letztlich geht es nicht darum, zwischen „Narzisst:in“ und „Sensibelchen“ zu unterscheiden. Es geht um das Erkennen der Vielschichtigkeit. Um die Anerkennung, dass Kunst aus ganz unterschiedlichen inneren Quellen entsteht. Und manche davon sind laut, manche leise, manche selbstbewusst und manche zaghaft.

Unsere Veranstaltungen für Künstler:innen

Im Rahmen der Woche der seelischen Gesundheit vom 10. bis 20. Oktober 2025 bieten wir spezielle Formate für Kunst- und Kulturschaffende an. Diese Veranstaltungen schaffen geschützte Räume, in denen Themen wie Selbstdarstellung, psychische Balance und künstlerische Resilienz im Mittelpunkt stehen. Schau also unbedingt auf unserer Seite vorbei, die Anmeldungen starten bereits im September.

Unsere Dozentin Annette Kroll begleitet Kunst- und Kulturschaffende seit über 20 Jahren und bringt ihre Expertise gezielt in MindShift ein. Für Anfragen, Kooperationen oder direkte Informationen zu den Veranstaltungen kontaktiere Annette Kroll unter: annette.kroll[ät]arenus-akademie.de oder über unser Kontaktformular.

Fazit: Raum für echte Begegnung

Die Bühne kann Ort der Selbsterfahrung und Selbstentfaltung sein. Doch sie kann auch zum Ort der Überforderung werden. Sie kann heilen. Aber sie kann auch verletzen, aufwühlen oder in tiefere persönliche Krisen stürzen. Was zählt, ist ein differenzierter Blick auf Strukturen, auf Persönlichkeiten und auf das Spannungsfeld zwischen Ausdruck und Exponiertheit.

Künstlerische Größe entsteht also selten aus bloßer Eitelkeit. Viel häufiger ist sie ein Echo innerer Prozesse: von Verletzung, Sehnsucht, Selbstbehauptung oder tiefer Verbundenheit mit dem Leben. Die Kunstwelt braucht Platz für all das, nicht nur für das Glänzende, sondern auch für das Fragile.

Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe: Kunst & Kultur darf Räume schaffen, in denen Menschen nicht nur performen, sondern auch einfach sie selbst sein dürfen. Mit allem, was dazugehört.

Wir danken Dir für Deine Zeit und Aufmerksamkeit!


Hinweis zu den Fallbeispielen

Die im Artikel zitierten Fallbeispiele stammen aus realen Gesprächen mit Künstler:innen, die ihre Erfahrungen im Kontext psychischer Gesundheit geteilt haben. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden die Namen geändert.

 

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