In diesem Artikel erfahren Sie die vier zentralen Kriterien zur Beurteilung psychischer Belastung.
Doch vorab bitten wir Sie einen Augenblick lang darüber nachzudenken, wie Sie mit eigenen Belastungen, Problemen oder (länger andauernden) Sorgen umgehen.
Wie gehen Sie mit Ihrem Befinden um?
Horchen Sie bitte in sich hinein und prüfen Sie, ob Sie ähnliche Sätze/Gedanken kennen:
- „Ich bin so erschöpft. Ich brauche dringend Urlaub oder eine Auszeit. Dann wird es schon wieder besser.“
- „Wenn ich anfange mich mit meinen ganzen Themen zu beschäftigen, dann finde ich immer mehr und mehr und mehr. Am besten ich fange erst gar nicht an.“
- „Es hat mich so aus der Bahn geworfen, was passiert ist, aber ich habe keine Zeit zu trauern. Ich muss da einfach durch.“
- „Ich kann es mir einfach nicht leisten kürzer zu treten oder mich jetzt um mich zu kümmern. Zu vieles hängt an mir. Wie soll alles weiter funktionieren?“
- „Der viele Stress aktuell ist nur eine Phase. Es ist einfach viel los zur Zeit. Das wird schon wieder besser, wenn die Aufgaben und Projekte abgeschlossen sind. Manches muss man einfach aussitzen und aushalten. Da müssen wir schließlich alle durch.“
Tief in Ihnen werden Sie wissen, dass die Art und Weise, wie Sie mit sich selbst, mit Ihren Themen und mit Ihrer Lebenssituation umgehen, einen großen Einfluss darauf hat, wie sich Ihr Gesundheitszustand entwickelt.
Aus verschleppten Belastungen resultieren ernste gesundheitliche Probleme
Hier einige unserer Beobachtungen aus der Praxis:
Wir erleben bei Menschen eine hohe und lange Leidensfähigkeit und beharrliche Ausdauer gegenüber unangenehmen, negativen oder bereits belastenden Zuständen. Wir beobachten, wie Menschen über lange Zeiträume in belastenden Situationen ausharren. Das ist erstaunlich wie erschreckend zugleich.
Auch erleben wir, dass Menschen sich nicht gerne (und nicht rechtzeitig) mit ihrem eigenen Zustand auseinandersetzen. Damit meinen wir die kritische Auseinandersetzung, wenn Sie bemerken, dass etwas nicht mehr stimmt. Dass Sie sich unwohl, unzufrieden, einsam oder traurig, dauerhaft gestresst, erschöpft, ausgebrannt oder bereits psychisch belastet fühlen.
Geringe Selbstwahrnehmung, hoher Erwartungen an sich selbst, Verdrängungs- und Vermeidungsmechanismen, Angst vor Veränderungen – vieles kann dazu beitragen, warum Menschen nicht rechtzeitig innehalten und sich mit ihrem Befinden beschäftigen.
Negative Zustände werden so über lange Zeiträume verschleppt. Sie kennen es sicherlich von Erkältungssymptomen: Sie fühlen sich irgendwie angeschlagen, haben ein paar lästige Symptome, aber eine richtige Erkältung oder Grippe bricht nicht aus. Also kümmern Sie sich nicht weiter drum und glauben daran, dass das „Kleinebisschen“ bald von alleine verschwindet. Doch mit einem Mal führt diese verschleppte Erkältung dazu, dass Sie früher oder später mit einem dicken und hartnäckigen Infekt flachliegen und es Ihnen so richtig schlecht geht. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Eine psychische Belastung ist nicht anders, als solch eine subtile und verschleppte Erkältung. Eine psychische Belastung ist wie ein Nährboden für weitere ernstzunehmende psychische und physische Probleme, Beschwerden oder sogar Erkrankungen. Daher besteht allemal die Dringlichkeit, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Definition: Psychische Belastung
Wir formulieren für Sie eine Definition, die direkt aus unserer Praxis stammt:
“Psychische Belastung ist ein individueller körperlicher, geistiger wie seelischer Zustand, bei dem eine Person merkbar aus ihrem Gleichgewicht und Wohlbefinden gebracht wird. Es ist ein sensibler Übergang zur drohenden Entwicklung oder Verschlimmerung weitreichender gesundheitlicher Probleme.”
Vier Kriterien zur Beurteilung psychischer Belastung
Eine psychische Belastung ist kein objektivierbares Konzept, in das Sie und hundert anderer Menschen hineinpassen. Eine Psychische Belastung ist ein individueller Zustand. Die folgenden Kriterien können Ihnen helfen, sich konstruktiv mit Ihrem Befinden zu beschäftigen und Ihre psychische Belastung besser zu beurteilen.
1) Zeitverlauf
Das erste Kriterium beschreibt die Entwicklung Ihres Wohlbefindens im Laufe der Zeit.
Gemeint ist der Prozess, wenn Ihr Wohlbefinden immer weiter abnimmt. Zuerst bemerken Sie es vielleicht nicht, aber nach gewisser Zeit fällt Ihnen auf, dass Sie sich unwohl fühlen. Als stünden Sie neben sich. Oder als wäre Ihnen Leichtigkeit oder Gelassenheit abhandengekommen und Sie würden sich gedrückt, schwermütig, irgendwie unzufrieden oder unerfüllt und belastet fühlen.
Ein Beispiel:
Es passiert etwas in Ihrem Leben, das Sie aus der Bahn wirft (z.B. ein schwerer Verkehrsunfall, ein Verlust, eine Beziehungskrise oder eine plötzliche berufliche Veränderung). Ein Verlust, ein schlimmer Streit, eine Trennung oder eine große Veränderung. Etwas, das Sie bewältigen müssen, das Sie intensiv beschäftigt und mitnimmt. Kurz nach dem Ereignis stecken Sie noch in der Verarbeitung und stehen vielleicht sogar unter Schock. Dennoch machen Sie erstmal weiter und halten Ihren Alltag am Laufen. Doch auch nach Wochen fühlen Sie sich nicht merklich besser oder entlasteter. Es nimmt Sie immer noch mit. Sie stecken mitten in einem schwierigen Bewältigungsprozess und haben noch nicht „die Kurve“ nach oben gekriegt, sondern treten entweder auf der Stelle oder merken bereits, dass es Ihnen zunehmen schlechter geht.
2) Intensität
Das zweite Kriterium beschreibt Ihr inneres Belastungsempfinden. Nur Sie allein wissen, wie es tatsächlich in Ihnen aussieht. Nur Sie können am besten beurteilen, ob und wie sehr Sie sich bereits belastet fühlen.
Psychische Belastung ist nicht gleichzusetzen mit einem doofen Tag oder blöden drei Tagen, sondern beschreibt einen länger andauernden Zustand, in dem Sie verschiedene emotionale, gedankliche oder körperliche Veränderungen an sich bemerken, die Sie belasten und Ihr Wohlbefinden beeinträchtigen.
Wie fühlen Sie sich?
Was bedrückt Sie?
- Fühlen Sie sich vielleicht dauerhaft gestresst, getrieben, angespannt, dadurch ruhelos, zunehmend kraftlos oder unmotiviert? Haben Sie Schwierigkeiten abzuschalten und tatsächlich in Erholung zu kommen?
- Sind Sie seit einiger Zeit schneller genervt, schneller gereizt oder ungeduldig? Gehen Sie vielleicht schneller auf Barrikaden und reagieren weniger entspannt, humorvoll oder gelassen, als Sie es sonst von sich kennen?
- Haben Sie mehr Stimmungsschwankungen, als früher? Oder sind Sie näher am Wasser gebaut als sonst? Reagieren empfindsamer als sonst? Oder können Sie weniger gut mit Kritik umgehen?
- Sind Sie besorgter, ängstlicher und unsicherer geworden? Haben sich Zweifel und Sorgen in Ihnen vermehrt und kommen Sie immer wieder ins ergebnislose Grübeln? Können Sie das Gedankenkarussell schlechter oder gar nicht abstellen, vielleicht besonders in den ruhigen Momenten oder in der Nacht?
- Plagen Sie andere unangenehme Gefühle, wie Scham- oder Schuldgefühle oder Einsamkeit? Oder fühlen Sie sich immer wieder total überfordert oder sogar hilflos?
- Gibt es körperliche Beschwerden, die zugenommen haben? Verspannungen, Schmerzen oder Verdauungsbeschwerden? Wie gut schlafen Sie und ist Ihr Schlaf erholsam? Sind Sie anfälliger geworden für Infekte? Oder gibt es etwas anderes, das Ihnen an Ihrem körperlichen Zustand auffällt und Sorgen bereitet?
3) Veränderungen
Das dritte Kriterium meint Veränderungen in Ihrem Erleben und Verhalten.
Psychisch belastete Menschen durchlaufen einen individuellen Prozess einer „Wesensveränderung“.
Das bedeutet nicht, dass diese Menschen zu anderen Persönlichkeiten werden. Aber es kann sich verändern wie sie wahrnehmen, bewerten, sich in verschiedenen Situationen verhalten und im Außen wirken. Es ist ratsam, nahestehende Menschen zu befragen, welche Veränderungen sie an Ihnen beobachten und natürlich ist es sinnvoll, dass Sie sich selbst reflektieren.
Ein Beispiel:
Früher waren Sie vielleicht ein richtiger Spaßvogel, eine Person zum Pferdestehlen. Mit Ihnen konnte man immer gut schnacken und Sie waren äußerst aktiv, viel und gerne unterwegs und dabei immer spontan und offen. Sie waren humorvoll, gelassen und nichts konnte Sie so schnell aus der Bahn werfen. Nun sind Sie in letzter Zeit irgendwie ernster geworden. Ja, sogar etwas wortkarg. Sie können nicht mehr über jeden Blödsinn lachen, sind auch weniger spontan und nicht mehr für jede Verabredung und jede Aktivität zu haben. Sie sind vielleicht kritischer geworden und verfolgen bestimmte Ideale und Vorstellungen viel intensiver, als früher. Irgendwie sind Sie „verhärtet“. Das nehmen auch andere an Ihnen wahr und wundern sich. Es kann sogar sein, dass Sie anfangen, sich aus Ihren Kontakten zurückzuziehen. Oder Sie beginnen Ihren inneren Zustand mit aufgesetztem Verhalten zu überdecken. So nach dem Motto: „Alles bestens bei mir!“
Unter diese Kategorie fällt im Übrigen auch das Konsumverhalten. Rauchen Sie mehr als früher oder versuchen Sie etwas mit Alkohol zu kompensieren? Flüchten Sie sich ins Netflix, um sich von etwas abzulenken? Oder tätigen Sie aktuell mehr „Frusteinkäufe“ als früher? Wie ist Ihr Essverhalten? Und wie sieht es mit Ihrer Sexualität aus?
4) Alltagstauglichkeit
Das vierte Kriterium meint die Bewältigung Ihres Alltags und wie gut es Ihnen gelingt, Ihrem Alltagstrubel gerecht zu werden und Ihre Aufgaben zu meistern.
Bei psychischer Belastung erleben Menschen ihren Alltag oft als anstrengend und als Belastung für sich. Es kostet sie mehr Überwindung, mehr Kraft oder Zeit Dingen nachzugehen, die früher irgendwie leichter von der Hand gingen. Die Motivation, der innere Antrieb, die Freude oder auch das Sinnempfinden sind nicht mehr so gut spürbar, wie früher.
Ein Beispiel:
Wenn Sie sich psychisch belastet fühlen, kann es sein, dass Sie das Gefühl haben weniger Energie zu haben, als früher. Sie fühlen sich vielleicht schwerfälliger. Ihre Konzentrationsfähigkeit hat nachgelassen und Sie können sich Informationen schlechter merken. Sie sind schneller reizüberflutet und können nicht mehr so gut Entscheidungen treffen. Auch Ihre Arbeitsfähigkeit und Ihre Leistungsfähigkeit haben abgenommen, jedoch versuchen Sie alles (und noch mehr), um das alte Niveau aufrecht zu erhalten. Am liebsten würden Sie bestimmte Aufgaben liegen lassen und Sie merken, dass Sie immer wieder in die Vermeidung geraten und prokrastinieren.
Fazit
Psychische Belastungen können jeden Menschen treffen. Die Ursachen können vielfältig sein, genauso wie sich eine psychische Belastung für jede Person etwas anders anfühlen kann.
Wichtig zu wissen ist, dass eine psychische Belastung einen sensiblen Zustand darstellt. Je länger Sie in diesem sensiblen Zustand verharren, desto höher ist das Risiko, dass sich Ihr Zustand nicht von alleine bessert, sondern Sie in eine Abwärtsspirale geraten.
Aus einer Abwärtsspirale auszusteigen wird immer schwieriger, je tiefer Sie fallen. Die Konsequenzen sind, dass sich aus einer psychischen Belastung weitreichendere Beschwerden, Probleme oder sogar Erkrankungen entwickeln können. Umso wichtiger ist es, dass Sie lernen, sich frühzeitig mit Ihrem Befinden zu beschäftigen und sich mit dem, was Sie wahrnehmen und was Ihnen Unwohlsein bereitet, konstruktiv auseinandersetzen.
Wir danken Ihnen für Ihre Zeit und Aufmerksamkeit.