Wenn wir an Narzissmus in der Kunst denken, haben wir sofort Bilder im Kopf: der exzentrische Maler, die Diva auf der Opernbühne, der selbstverliebte Regisseur, der seine Vision kompromisslos durchdrückt. Wir lachen, schütteln den Kopf, zucken die Schultern und sagen: „Künstler halt“. Aber was, wenn das eigentliche Problem gar nicht auf der Bühne tobt, sondern im Halbdunkel dahinter? Was, wenn die wahren Fädenzieher ganz woanders sitzen und wir das einfach nicht sehen (wollen)?
Das Klischee vom exzentrischen Genie
Die Kunstwelt liebt ihre Exzentriker. Sie sind Teil des Mythos, der sich um das „Genie“ rankt: Wer Großes schafft, darf auch schwierig sein.
Doch dieses Klischee lenkt ab von einer unbequemen Wahrheit: Narzisstische Muster sind nicht das Privileg Einzelner, sondern tief in den Strukturen der Kunst- und Kulturbranche verankert. Und sie betreffen keineswegs nur die Rampenlichter.
Macht, Hierarchien und stille Manipulation
Hinter jeder gefeierten Künstlerin und hinter jedem großartigen Künstler gibt es ein Netz aus Agenturen, Förderern, Kuratorinnen, Intendanten, Produktionsleitungen, Gremien und Stiftungen. Wer bestimmt, wer gesehen wird? Wer entscheidet, welches Projekt gefördert wird? Oder wer ein Stipendium bekommt? Wer entscheidet, wessen Werk auf Tournee geht? Hier, im Hintergrund, wird Macht verteilt. Nach außen oft unsichtbar, im Inneren oft ohne Kontrolle und mit einer Prise Selbstverliebtheit und Geltungsdrang.
Narzissmus hinter den Kulissen ist selten laut und schrill. Er ist subtil, höflich und strategisch. Er zeigt sich in der Selbstinszenierung von Förderern, im Gatekeeping der Entscheider:innen, im Ausnutzen von Abhängigkeiten. Wer am Hebel sitzt, kann Karrieren machen oder sie auch zerstören. Und nicht selten werden dafür Menschen instrumentalisiert, klein gehalten oder ausgebrannt.
Natalie, 29, Opernsängerin:
Bei Auditions habe ich schon viele schlimme Situationen erlebt. Oft wurde nicht meine Darbietung, sondern ich als Person, meine Kleidung oder meine Körperform herabgewürdigt. Natürlich ist es immer subjektiv, ob man eine Stimme schön findet, aber es gibt doch einige objektive Kriterien, nach denen man Sänger:innen beurteilen kann. Warum muss man jemanden dann auf offener Bühne fertig machen? Natürlich kann es sein, dass man schon schnell merkt, dass jemand das Vorsingen nicht gut meistern wird, aber ich finde aus Respekt für den Mut, die Vorbereitungszeit und –kosten, die weite Anreise sollte man nicht nach wenigen Takten unterbrechen und jemanden nach Hause schicken.
Die unsichtbaren Opfer: Wer zahlt den Preis?
Während wir über schräge Künstler:innen schmunzeln, übersehen wir die, die im System zerrieben werden: Produktionsassistent:innen, Technikcrews, Nachwuchstalente, Praktikant:innen, freie Kurator:innen. Sie sind oft prekär beschäftigt, abhängig von Kontakten, Empfehlungen und dem Wohlwollen derer, die in der Hierarchie über ihnen stehen. Wer widerspricht, kann auch schnell ersetzt werden. Wer sich anpasst, darf hoffen. Aber um welchen Preis?
José, 35, ehemaliger Tänzer in der Balletkompanie eines großen deutschen 3-Sparten Hauses:
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob meine Nicht-Verlängerung, also die Kündigung, tatsächlich künstlerische Gründe hatte, oder damit zusammenhing, dass ich mich kurz zuvor im Betriebsrat engagiert habe und übergriffiges Verhalten eines Choreografen bei der Theaterleitung gemeldet habe. Der fehlende Rückhalt seitens der Intendanz und die fehlende Unterstützung von Kollegen, haben mein Vertrauen in meine Mitmenschen nachhaltig erschüttert.
Hier entstehen toxische Dynamiken: Anpassung, Schweigen und sich „Durchbeißen“ werden zur Überlebensstrategie. Narzisstisch geprägte Strukturen fördern Ellbogenmentalität, Konkurrenz, Angst vor Fehlern und den Mythos der totalen Hingabe. Wer ausbrennt, ist selbst schuld, so zumindest die Erzählung.
Warum schauen wir weg?
Vielleicht, weil das System so alt ist wie die Kunst selbst. Vielleicht, weil wir alle ein bisschen vom Glanz abhaben wollen. Vielleicht, weil wir hoffen, irgendwann auch mal „oben“ zu sitzen. Vielleicht, weil wir glauben, dass Kreativität Leiden braucht.
Doch ist das wirklich so? Oder ist es an der Zeit, uns einzugestehen, dass Größe und Menschlichkeit sich nicht ausschließen? Ist es an der Zeit unsere eigenen veralteten Vorstellungen von Kunst und Kultur zu hinterfragen und mit veralteten Rollenbildern, Vorurteilen und bequemen Überzeugungen aufzuräumen?
Was wäre Kunst ohne Machtmissbrauch?
Was, wenn wir uns trauen würden, Macht zu teilen? Was, wenn Förderung nicht von Gunst, sondern von echter Qualität abhinge? Was, wenn wir Strukturen schüfen, die Fehler erlauben, Entwicklung fördern und Vielfalt wirklich leben? Was, wenn wir aufhören, die Exzentrik Einzelner zu feiern und stattdessen den Blick für die leisen, kreativen Stimmen öffnen, die sonst nie gehört werden?
Wachrütteln statt wegschauen
Es ist Zeit, den Scheinwerfer umzudrehen. Nicht nur auf die Bühne, sondern auf die Seitenbühnen, die Büros, die Sitzungen, die Gremien. Zeit, Macht zu hinterfragen, Hierarchien aufzubrechen, die eigene Rolle zu reflektieren. Zeit, sich zu fragen: Wen fördere ich? Wem höre ich zu? Wo profitiere ich vom System und wo bin ich vielleicht Teil des Problems?
Fazit: Kunst braucht Mut – und zwar nicht nur auf der Bühne
Die Kunst- und Kulturbranche ist ein Spiegel der Gesellschaft. Sie kann inspirieren, provozieren und verändern. Aber sie kann auch verletzen, ausnutzen und zerstören. Es liegt an uns allen, den Mut zu haben, genauer hinzusehen. Nicht nur auf die schrillen exzentrischen Wesen im Rampenlicht, sondern auf die stillen und oft zerstörerische Machtspiele im Hintergrund. Denn wahre Größe zeigt sich nicht in der Selbstinszenierung, sondern im Umgang mit anderen.
Vielleicht ist es Zeit, den Begriff „Genie“ neu zu denken. Und mit ihm die Strukturen, die Kunst möglich machen.
Was denkst du: Wer zieht in deinem Umfeld die Fäden und wie sichtbar ist das eigentlich?
P.S.: Wenn du das Gefühl hast, dass diese Fragen dich oder dein Team betreffen, bist du nicht allein. Annette Kroll, Dozentin der Arenus Akademie, kennt die Kunst- und Kulturbranche aus über 20 Jahren eigener Erfahrung. Mit ihren feinen Antennen für Machtstrukturen und psychische Belastungen setzt sie sich mit Leidenschaft für die Menschen auf der Bühne und hinter den Kulissen ein. Ob im MindShift-Kurs oder in der individuellen 1:1-Begleitung: Annette fördert gezielt psychische Gesundheit, stärkt Selbstwirksamkeit und bietet einen sicheren Raum für ehrliche Reflexion. Kontaktmöglichkeiten mit Annette findest du unter „Unser Team“, über unser Kontaktformular oder direkt auf Annettes LinkedIn Seite.
Wir danken Dir für Deine Zeit und Aufmerksamkeit!
Hinweis zu den Fallbeispielen
Die im Artikel zitierten Fallbeispiele stammen aus realen Gesprächen mit Künstler:innen, die ihre Erfahrungen im Kontext psychischer Gesundheit geteilt haben. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden die Namen geändert.







