„Der ist voll der Narzisst!“
Schublade auf, Urteil gefällt, Schublade zu.
Diese Szene spielt sich heute in unzähligen Freundeskreisen, WG-Küchen, TikTok-Beiträgen oder WhatsApp-Gruppen ab. Ein Podcast-Zitat, ein viraler TikTok-Clip, ein wenig Küchenpsychologie… und schon wird ein Mensch, der vielleicht einfach nur Grenzen setzt, Klartext redet oder sich selbst wichtig nimmt, mit einem schweren Stigma einer Persönlichkeitsstörung belegt: Narzisst.
Wir leben in einer Zeit, in der Selbstfürsorge gefeiert und Egozentrik geächtet wird (außer in der Kunst- & Kultur-Szene?). Doch der Grat dazwischen ist schmal. Was gerade passiert, ist mehr als ein modischer Diagnosetrend. Es ist eine moderne Inquisition mit pseudopsychologischem Anstrich. Es ist gefährlich, unfair und alles andere als inklusiv.
Daher stellen wir hier die Frage: Diagnose oder Diffamierung?
Narzissmus als Schimpfwort
„Narzisst“ ist zum Totschlagargument geworden. Wer sich nicht so verhält, wie wir es erwarten oder es nicht unsere eigenen Muster bedient, landet schnell im Abseits und schnell mit dem Etikett „Narzisst“. In der Alltagskultur wird der Begriff inzwischen inflationär genutzt: für Ex-Partner:innen, Vorgesetzte, Influencer:innen, Politiker:innen, Künstler:innen. Die, die unbequem sind, bekommen schnell einen Stempel aus der klinischen Psychologie.
Dabei ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) laut älteren Diagnosemanualen wie dem ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO) oder DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric Association) eine ernstzunehmende psychische Erkrankung. Die Diagnose darf nur nach gründlicher Abklärung und nur von Fachleuten gestellt werden. Doch darüber redet kaum jemand. Stattdessen wird „Narzisst“ als Etikett verwendet, das Menschen entwertet, entmenschlicht und sie oft genau in das treibt, was man ihnen vorwirft: Isolation, Misstrauen und Verzweiflung.
Küchenpsychologie, Fachsprache und ein wichtiger Wandel
Psychologische Begriffe sind in den Alltag eingezogen wie Einbauküchen. Stylisch, praktisch, aber oft falsch montiert. Was früher dem geschulten Blick von Psychotherapeut:innen vorbehalten war, wird heute im Netz verbreitet wie ein Diättrend: Dissoziation, Gaslighting, Borderline, innere Kindarbeit und eben Narzissmus.
Das Problem: Ohne Fachwissen fehlt der Blick für Nuancen. Narzisstische Züge hat jede:r. Das ist menschlich und kein Krankheitsbild. Erst wenn diese Züge zu anhaltenden, funktionseinschränkenden Mustern werden, sprechen wir von einer „Störung“. Und auch dann braucht es mehr als eine Podcastfolge oder ein YouTube-Video zur Diagnose.
Denn Achtung! Die Diagnose „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ gibt es nach ICD-11 offiziell nicht mehr!
Mit der Einführung des ICD-11 (seit 2022 in Kraft) wurde die Kategorie der narzisstischen Persönlichkeitsstörung abgeschafft. Stattdessen werden Persönlichkeitsstörungen nun dimensional betrachtet, also als Spektrum von Persönlichkeitsmerkmalen und nicht mehr als starre Schublade.
Das hat gute Gründe: Die Forschung und klinische Praxis zeigen, dass Menschen selten „rein“ narzisstisch sind. Viel häufiger gibt es Mischformen mit anderen Mustern und vielschichtige Hintergründe. Die alte Diagnose war wissenschaftlich und praktisch zu eng gefasst und förderte schlichtweg Stigmatisierung. Die alte Form der Persönlichkeitsstörungs-Diagnostik wird also der Komplexität des Mensch-Sein nicht mehr gerecht.
„Plötzlich war ich der Narzisst“, ein Fallbeispiel
Marcel, 42, erzählt:
„Nach dem Ende meiner langjährigen Beziehung hieß es plötzlich überall, ich sei ein Narzisst. Meine Ex-Partnerin hatte mit Freund:innen gesprochen, und auf einmal war ich ‚der toxische Typ‘. Ich habe Fehler gemacht, ja. Aber plötzlich wurde alles, was ich tat, als Beweis für Narzissmus gedeutet. Es war wie ein Buschfeuer, das sich durch meinen Freundeskreis fraß. Kontakte brachen ab. Ich wurde ignoriert. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen, weil ich das Gefühl hatte, mich ständig rechtfertigen zu müssen. Bis heute kämpfe ich mit dem Stigma. Ich habe Angst, neue Beziehungen einzugehen, weil ich sofort in Verdacht stehe, ein Narzisst zu sein.“
Dieses Beispiel zeigt, wie schnell ein Stigma zum sozialen Flächenbrand werden kann. Und wie sehr es Menschen vereinsamen lässt, selbst dann, wenn sie eigentlich nur auf der Suche nach Nähe, Verständnis und Entwicklung sind.
Die eigentliche Tragik hinter Narzissmus
Die narzisstische Persönlichkeitsstruktur ist paradox. Außen die große Bühne, innen oft tiefer Schmerz. Viele Betroffene leiden unter dem Gefühl, nie wirklich geliebt zu werden. Sie glauben nicht für das, was sie sind, geliebt werden zu können, sondern nur für das, was sie darstellen. Sie kompensieren ihre Unsicherheit durch Überhöhung, brauchen Anerkennung wie Luft zum Atmen. Und stoßen Menschen damit unweigerlich von sich weg.
Doch wer spricht davon? Statt Empathie gibt es Vorurteile. Ausgrenzung gibt es statt Hilfe. Und statt Therapie gibt es Verachtung.
In einer Gesellschaft, die sich Offenheit und Toleranz auf die Fahne schreibt, stigmatisieren wir Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen in einer Härte, die mehr über uns als über sie aussagt.
Wir stellen die nächste Frage: Ist der anmaßende Gebraucht von Begriffen der klinischen Psychologie vielleicht auch ein kritisches Merkmal von Selbstüberhöhung?
Wer sind wir noch ohne Etikett? In einer Zeitqualität, in der wir begonnen haben uns über Diagnosen, Labels und Schubladen zu definieren, verlieren wir leicht das, was uns eigentlich ausmacht: Menschlichkeit. Wenn wir Menschen nur noch durch die Brille psychologischer Kategorien betrachten, sehen wir oft nicht mehr das Individuum, sondern nur die Kategorie. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder mehr Menschen zu sehen statt Störungen. Denn vielleicht trägt genau diese gefährliche Form der Küchenpsychologie zur Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch erkrankter Menschen bei.
Inklusion heißt auch: Persönlichkeitsvielfalt aushalten
Was wäre, wenn wir Menschen nicht nach Diagnose-Schubladen sortieren, sondern nach Bedürfnissen und Mustern verstehen würden?
Was wäre, wenn wir aufhören, mit Fremddiagnosen um uns zu werfen und anfangen, Beziehungsmuster zu reflektieren?
Narzisstische Züge können nerven, ja. Aber sie machen niemanden automatisch zu einem manipulativen Monster. Menschen mit dieser Struktur brauchen Grenzen, aber auch Verständnis. Therapie statt Trennung. Mitgefühl statt Cancel Culture.
Wer wirklich psychisch gesunde Beziehungen führen will, muss lernen, mit Komplexität umzugehen. Wer ehrlich empathisch, offen und tolerant sein will, darf sich auch mit dem eigenen Anteil an Beziehungskonflikten auseinandersetzen.
Was denkst du? Ist es nicht an der Zeit, wieder menschlicher und weniger moralisierend aufeinander zu schauen? Weniger Schublade, mehr Dialog? Vielleicht liegt in dieser Differenzierung die wahre Stärke: zu erkennen, dass wir alle mal narzisstisch sind und trotzdem liebenswert bleiben dürfen.
Lass uns offen und ehrlich darüber sprechen, in unseren Kursen, in den Kommentaren oder einfach im echten Leben.
Wir danken Dir für Deine Zeit und Aufmerksamkeit!







